Ausgangslage
Schon vor über einem Jahrzehnt hat sich ein neues Pflegemodell entwickelt und verbreitet: die24-Stunden-Betreuung. Für betagte und pflegebedürftige Menschen wurde damit ein immer grösserer Wunsch realisierbar, dass sie ihren Lebensabend möglichst lange daheim verbringen können. Bei den Betreuer:innen handelt es sich zumeist um Care-Migrant:innen aus osteuropäischen Ländern, welche bei den pflegebedürftigen Personen wohnen und sie rund um die Uhr unterstützen im Haushalt, bei Einkäufen sowie Pflege und Hygiene.
Das Pflegemodell wird in verschiedenen rechtlichen Formenangeboten – von Privaten und immer öfters von Betreuungsorganisationen, welche entsprechende Pflegekräfte vermitteln oder verleihen. Je nach Form muss einem anderen Regelwerk gefolgt werden. Anwendbar sind Arbeitsvermittlungsgesetz, Arbeitsvermittlungsverordnung, Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih und Arbeitsgesetz.
Urteil 2C_470/2020 vom 22. Dezember 2021
Das Bundesgerichtsurteil stellt die24-Stunden-Betreuung neu unter das Arbeitsgesetz, sofern die Betreuer:innen über Personalverleihagenturen angestellt werden. Die Betreuungsorganisationen müssen somit garantieren, dass dessen Vorschriften eingehalten werden. Das bedeutet für die Care-Migrant:innen einen grösseren Schutz, geregelte Arbeits- und Ruhezeiten. Gleichwohl heisst es für viele Personalverleihunternehmen grundlegende Anpassungen im Geschäftsmodell vorzunehmen.
Auswirkungen auf die Praxis
Kayla Zinser hat im Rahmen ihrer Bachelorarbeit fünf Interviews geführt, welche zeigen, dass die befragten Unternehmen, wenn, nur minimale Änderungen vorgenommen haben. Einige Geschäftsführer:innen betonen, dass es sich um ein Einzelfallurteil handle, es dementsprechend keine Auswirkungen auf sie habe und das Arbeitsgesetz noch nicht für ihr Unternehmen gelte. Es herrscht also Uneinigkeit darüber, ob das Urteil bereits konkrete Auswirkungen hat und ob weitere Empfehlungen abgewartet werden sollten. Andere Unternehmen nehmen keine Geschäftsmodellanpassungen aufgrund der laufenden Seco-Gespräche vor. Solche Geschäftsmodellanpassungen seien teuer und darum warten sie, bis eine einheitliche Lösung gefunden wird. Das Abwarten der Anpassungen ist mit dem Seco jedoch nicht abgesprochen. Nochmals andere meinen, dass ihr Unternehmen das Arbeitsgesetz bereits anwendet, weshalb keine Anpassung notwendig sei. Während der Interviews wurde jedoch deutlich, dass die einzelnen Regelwerke nicht auseinandergehalten werden konnten.
Insgesamt zeigen die Interviews, dass die Umsetzung des Urteils zu Verunsicherungen und Irritationen führt, und dass viele Unternehmen noch nicht vollständig darauf vorbereitet sind, ihre Geschäftsmodelle entsprechend anzupassen. Die Branche wirkt überreguliert, aber trotzdem ist sie nicht passend geregelt.
Fazit
Das Urteil ist einerseits zwar wegweisend, deckt das Themenfeld der Betagtenbetreuung in einer gesamtheitlichen Sichtweise aber nur ungenügend ab. Die betroffenen Unternehmen mit Personalverleih sehen sich bei einer konsequenten Umsetzung vor sehr grossen Herausforderungen, wobei andere rechtliche Formen – die Vermittlung und Privatanstellung – nicht vom Urteil betroffen sind. Einfach gesagt, wird die Arbeit einer ausländischen Care-Migrant:in bei gleicher Tätigkeit, Aufenthaltsort und Arbeitszeit abhängig von ihrem Anstellungsmodell komplettunterschiedlich eingestuft. Die betroffenen Verleiher:innen erleben das neue Urteil sogar als Überregulierung des wachsenden Marktes und müssen ihre Mehraufwände auf die Kundschaft abwälzen. Dies führt wiederum dazu, dass weniger solvente Kundschaft zu anderen Angeboten wechselt oder im schlechtesten Fall sogar für Schwarzmarktlösungen bereit ist.
Die Problematik scheint von den betroffenen Stakeholdern erkannt. Das Seco ist dabei eine gesamtheitliche Lösung zu finden, welche passend auf das Modell der 24-Stunden-Betreuung (oderbesser «Live-in-Betreuung») passt. Es ist klar, dass es keine einfache Lösung gibt, die alles abdeckt. Jede Lösung wird immer auch ein Kompromiss bleiben.
Blogbeitrag von Kayla Zinser, 26. Juni 2024